close
BSA Bern, Our concerns, , Patrick Thurston

Eine Waldkathedrale

Eine Waldkathedrale
Carlo Scarpa (links) und Edoardo Gellner. © Studio di Architetturo Mario Merlo, Cortina d’Ampezzo und Archivio Storico ENI, Roma

Die Kirche «Nostra Signora del Cadore» Im Villaggio ENI

Als ich mit einigen Bildern die Kirche in Corte di Cadore kürzlich an einer Versammlung vorstellte, meinte der Architekturhistoriker Christoph Schläppi, es gäbe vieles zu sagen über dieses Bauwerk. Ich erschrak, weil ich nicht genau ausdrücken konnte, was mich an diesem Bauwerk begeistert. Seither suche ich nach Worten um das Erlebte zu beschreiben.

Um nach Borca di Cadore zu gelangen waren wir schon einige Stunden unterwegs als nach Belluno, dort wo die Strasse nach Norden in die Bergketten der Dolomiten einbiegt, eine eigenartige Brücke unsern Weg kreuzte, die ein grosses Rohr hydroelektrischer Anlagen über den Piave führt (Bild hier). Irgendwie war damit ein Zeichen gesetzt dessen Bedeutung ich vorerst nicht verstand.

Mit Verspätung trafen wir auf dem Parkplatz oberhalb der Kirche in Corte di Cadore ein, um die vereinbarte Führung mit der Kunsthistorikerin Elena Maierotti in Angriff zu nehmen. Alles was folgte beeindruckte mich sehr; die Ausführungen über Edoardo Gellner, die Rolle von Enrico Mattei, Bauherr und Konzernchef von ENI-Agip, die Landschaft, das Statement von Gianluca d’Incà Levis, dem Kurator des Progetto Borca / Dolomiti Contemporanee. Die schiere Menge an Eindrücken, Widersprüchen sowie auch verstörenden Aussagen von Gianluca, wie zum Beispiel «wir Architekten würden uns immer in die architektonischen Werke verlieben, ohne jedoch zu fragen oder wissen zu wollen, wer und wie man damit leben könnte».

1990 verkaufte ENI das Villaggio Turistico an die sardische Investorengruppe Minoter-Cualbu. Seither wird der Ort und somit auch die Kirche „Nostra Signora del Cadore“ in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr gebraucht. Edoardo Gellner war stets von der Idee geleitet, unwirtliche Orte durch seine Interventionen aufzuwerten und zu beleben. So konzentrierte er sich in den 50er Jahren als Erstes darauf, zusammen mit dem Strassenbau durch das Ausbringen von Grassoden ein Habitat für ein Miteinander von Landschaft und Städtebau zu entwickeln.

Mittlerweile zeigen diese «Bodenverbesserungsmassnahmen» nachhaltige Erfolge. Den Bäumen behagt der Standort ausserordentlich. Die früher aus allen Richtungen gut sichtbare Kirche liegt heute mitten in einem dichten Tannenwald. Gianluca d’Incà Levis, der sich nicht nur als Kurator und künstlerischer Leiter des Progetto Borca versteht, stellte sich uns als Gärtner vor, der mit Motorsense- und Säge den Wald in Schach hält, damit der Dornröschenschlaf der Bauten Edoardo Gellner’s nicht gestört wird. Gellner konnte sich wohl nicht vorstellen, dass das Leben im Villaggio ENI dereinst versiegen würde und seine Kultivierungsmassnahmen kraftvoller sein werden als die gebauten Strukturen. In seinem Verständnis war die Kirche eines der Zentren des Feriendorfes, lebendiger Mittelpunkt im sozialen, kulturellen und religiösen Leben der Mitarbeitenden des nationalen Oelkonzerns, die hier ihre Ferien verbrachten.

Heute präsentiert sich die Kirche der Eni- und Agipmenschen als Waldkathedrale, irgendwie verloren, aus dem Zusammenhang gefallen, den Widersprüchen der Zeit und bildverliebten Architekturtouristen ausgesetzt.

Was begeisterte mich an diesem Bauwerk?

Die Kirche „Nostra Signora del Cadore“ ist ein grosses Zelt. Ihr schützendes, kupfernes Blechschindeldach reicht weit nach unten, wie ein knöchellanger Mantel, der über bodennahen Fensterbändern schwebt. Das Dach scheint nirgends aufzuliegen. Ihm ist nur die Schutzfunktion zugedacht, wie wir es aus Darstellungen der Maria als Schutzpatronin kennen, wo die Gemeinschaft der Gläubigen unter ihrem Mantel Obhut findet (1). Das Schwebende scheint nur als Nebensächlichkeit auf, als kleine Irritation. Gleichzeitig tritt neben dem leichten Dach das felsartig dominante Querschiff in Erscheinung, welches das Zelt im Chorbereich durchkreuzt. Hier kommt ein rustizierter Beton zum Einsatz, künstlerisch aufs Feinste mit horizontalen Einlagen gestaltet, der wie geschichteter Fels erscheint, jedoch fern jeder simplen Mimikry. Dieses Querschiff durchbricht beidseits der Längsachse der Kirche das Zeltdach, birgt auf der einen Seite eine Kapelle und gegenüber die Empore, auf deren Rücken der Glockenstuhl als offenes Geläut hockt, aus dem die Turmnadel aufsteigt. Hier ist alles mineralisch, schwer, felsartig, wie die Bergformationen der Dolomiten. Widersprüchlicher oder vielschichtiger könnte die Erscheinung eines Bauwerks kaum sein!

Kompositorisch konsistent gehören die wall- und grabenartigen Fundamente sowie die zweite Kapelle beim Eingang den schweren, felsartigen Teilen der Kirche an. Dazu kommt der Umstand, dass das Kirchenschiff leicht ins Territorium eingesenkt ist um die etwas höher gelegene, bewaldete Kuppe gleich nebenan nicht mit dem Bauwerk zu besetzen, sondern diese im Gegenteil mit einem kreuzgangähnlichen Weg zu umrunden und damit Pfarrhaus, Sakristei und Kirche miteinander zu verbinden und so unmerklich dem Wald seine Referenz zu erweisen. Einmal mehr zeigt Gellner dadurch seine Verbundenheit mit Natur und Landschaft. Er schenkt einem nutzlosen Flecken Wald Beachtung und gibt ihm eine Bedeutung. So gelangt man von der einen Seite auf den grossen Platz vor der Kirche. Die Aufschüttung wird talseitig durch eine Mauer gefasst, deren Form die felsartig-winklige Geometrie des gegenüberliegenden Querschiffs übernimmt. Der zweite Zugang zur Kirche führt schräg gegenüber, hangparallel über eine überdachte, flache Treppe hoch, über die man in die gedeckte Vorzone der Kirche gelangt. Die Ausbildung dieses Narthexbereichs zeigt im Kleinen die morphologischen Regeln und macht deutlich, mit welch virtuoser Konsequenz und Brillianz Gellner und Scarpa hier ans Werk gingen. Der gedeckte Treppenaufgang führt seitlich unter das frei auskragende Zeltdach der Kirche. Oben an der Treppe tritt man auf den speziellen Boden der Kirche und erkennt unschwer die zu Kreuzen gespaltenen, im Mörtel verlegten Rundhölzer. Man befindet sich bereits auf «heiligem» Boden, dem Ort wo man in wenigen Schritten durch die Türe ins Innere der Kirche gelangt. Die Entwässerungsrinne im Boden hingegen folgt einmal mehr den Gesetzmässigkeiten und der Logik des Ganzen und übernimmt die Form des Chorabschlusses. Unprätentiös stehen hier fünf Stützen aus Doppel-T-Trägern welche das ausgreifende, leicht geknickte Dach des Narthex tragen. Die zwei Stützen, die zum Platz hin stehen, zeigen ihre Flansche, während die Flansche der restlichen drei Stützen parallel zur Eingangsfront ausgerichtet sind. Solche Details bedürfen einer besonderen Achtsamkeit beim Konstruieren. Hier und an vielen anderen Stellen zeigt sich die vielstimmige, vielleicht auch verstörend komplexe Sprache dieser Architektur. Ihre Spielart kennt keine Hemmungen. Es scheint als sei alles auf eine natürliche Art gewachsen. Gegensätze und Widersprüche fügen sich mühelos zu einem Ganzen zusammen.

Das Tragwerk des Bauwerks ist rigoros. Die hexagonale Form des Zeltdaches wird von 16 vorfabrizierten Beton-Rippenpaaren gebildet, welche unten und oben in Stahlfüssen- und Köpfen stehen und mit Zugstangen, die den Innenraum der Kirche durchkreuzen, stabilisiert werden. Ein feines räumliches Stabwerk bildet im First ein in Längsrichtung verbindendes Rückgrat. Die Rippenpaare liegen beidseits auf einem massiven Beton-Längsträger (45 x 92 cm) auf, der nicht nur über alle acht Stützenachsen verläuft, sondern auf der Chor- und Eingangsseite die Aussenwände durchschlägt, um auch jenseits der inneren Hülle die Rippen des Zeltdachs aufzunehmen. Dem ganzen Kirchenprojekt liegt ein Ordnungsraster von 122 x 122 cm zugrunde. So folgt auf jeder zweiten Achse ein Dach-Rippenpaar (Achsabstand 244 cm). Die sechseckigen, mit Steinplatten verkleideten Stützen, die als mächtige Füsse erscheinen, die die Längsträger tragen, liegen zwischen den Rippen und überspringen mit einem Anstand von 488 cm zwei Paare. Auch hier differenzieren Gellner und Scarpa die Ausrichtung der Stützenfüsse; sie erscheinen längsgerichtet im zentralen Bereich des Kirchenschiffs, hingegen quergestellt im Eingangs- und Chorbereich.

Um bei der Empore mehr Höhe und Licht zu bekommen, ist das Dach hier durch ein fachwerkartiges Stabwerk aus Metall angehoben, das auf den Betonrippen aufgesattelt ist. Damit wird der symmetrische Aufbau des Kirchenraumes ein weiteres Mal auf kühne Art um eine Dimension erweitert.

In der Kirche „Nostra Signora del Cadore“ ist man von einer vielfältigen Raumkomposition umgeben, welche in keiner Weise an Kirchenräume mit hohen Stützen, düsteren Altären, Gewölben und hoch liegenden Fenstern erinnert. Hier ist man unter einem immensen Schutzdach, welches Wind und grosse Schneemassen abhält und hier kann der Blick auch seitlich in die Tiefe des Waldes gleiten. Es ist ein Bauwerk, das mit den Mitteln der Ingenieurkunst der Zeit (1950er Jahre), welche auch für Brücken und Industriebauten verwendet wird, umzugehen weiss. Und man begegnet in jedem Detail einer Handwerkskunst, welche Tradition und Moderne miteinander verbindet, welche Materialien und ihre Machart mit Einfallsreichtum und Raffinesse präsentiert.

Diese Architektur ist roh, unmittelbar und gleichzeitig auch elaboriert, verspielt. Sie ist symmetrisch und doch nicht. Sie ist leicht und luftig und zugleich schwer, behäbig. Ihre Sprache ist vielchörig und verschlüsselt und lässt uns zugleich den Tenor starker Formen, expressiver Konstruktionselemente sowie kräftiger Materialien spüren. In dieser Architektur ist die Handschrift zweier starken Persönlichkeiten spürbar, die sich zugleich einig und uneins waren.

Eduardo Gellner liess sich zusammen mit seiner Frau Licia Bradamante 1946 in Cortina d’Ampezzo nieder, kurz nachdem er sein Architekturdiplom im Alter von 37 Jahren am Istituto Universitario di Architettura di Venezia IUAV erlangte.

Im Studium begegneten sich Gellner und Carlo Scarpa (1906 – 1978). 1946 wird Edoardo Gellner Mitglied der Associazione per l’Architettura Organica, welcher neben anderen auch der Architekt und Publizist Bruno Zevi sowie der Ingenieur Pier Luigi Nervi angehörten. Gellner lernte Frank Lloyd Wright 1951 kennen. 1956 fanden die Olympischen Winterspiele in Cortina d’Ampezzo statt. Carlo Scarpa organisierte an der XII. Triennale von Mailand 1960 eine Wright-Ausstellung.

Edoardo Gellner beschäftigte sich ab den 50er Jahren mit der Bauernhausarchitektur der Dolomiten. Mit grosser Hingabe und systematischer Sorgfalt erforschte er den Zusammenhang von Architektur und Landschaft in seiner Wahlheimat. In Cortina und anderen Gemeinden der Region setzte er sich für Ortsplanungen ein. Seine Suche galt einer zeitgenössischen Architektursprache die sich nicht über die Landschaft und das Territorium hinwegsetzt, sondern diese als gleichwertige Komponente anerkennt. Damit wandte er sich gegen das desaströse Wuchern des Bauens und die monströsen Tourismus- und Sportinfrastrukturen zur Wehr, welche in den Boomjahren der 50er und 60er Jahre die Täler der Dolomiten überrollten. In derselben Zeit wurde die Bergregion der Dolomiten von unzähligen hydroelektrischen Projekten entlang des Piave in Beschlag genommen. Eine Karte (hier) zeigt das Ausmass dieser Baumassnahmen und lässt deren Auswirkungen auf das Leben und die Landschaft der Dolomiten erahnen. In diese Zeit, 1954 bis 1963, fällt die Zusammenarbeit von Edoardo Gellner mit Enrico Mattei, dem Direktor des italienischen Mineralöl- und Energiekonzern ENI (Ente Nazionale Idrocarburi) für das Villaggio Turistico ENI in Borca di Cadore. Gleichzeitig wird ganz in der Nähe der Stausee Vajont in einem Seitental des Flusses Boite gebaut, wo es am 9. Oktober 1963 zu einem katastrophalen Bergsturz kommt, bei dem in den talseitigen Dörfern bis auf wenige Kinder alle, etwa 2000 Menschen sterben. Ein Jahr zuvor, im Oktober 1962 stirbt Enrico Mattei bei einem Flugzeugabsturz, dessen Ursachen nie zweifelsfrei geklärt werden konnten. Darauf bricht ENI die Fertigstellung des Projektes in Borca di Cadore abrupt ab.

In diesem Kontext ist der Bau der Kirche „Nostra Signora del Cadore“ und des Villaggio ENI zu sehen. Edoardo Gellner stand mitten in diesem kontrastreichen Umfeld. Er war bestens vernetzt und mit vielen wichtigen Exponenten der Zeit, so auch mit den beiden am Bauwerk beteiligten Bauingenieuren Silvano Zorzi und Carlo Cestelli-Guidi befreundet.

Heute wird der Ort auf kongeniale Art vom Progetto Borca respektive den Dolomiti Contemporanee belebt.

Informationen zum Bauwerk:

Corte di Cadore (BL), Villaggio ENI

Kirche und Pfarrhaus „Nostra Signora del Cadore“
Planung ab Sommer 1956
Ausschreibung der Bauarbeiten am 31. März 1958
Abschluss der Bauarbeiten 15. Juli 1959
Einweihung der Kirche 21. August 1961

Architektur: Edoardo Gellner, Cortina d’Ampezzo (1909 – 2004) in Zusammenarbeit mit Carlo Scarpa, Venedig (1906 – 1978)
Bauingenieure: Silvano Zorzi, Milano (1921 – 1994) und Carlo Cestelli-Guidi, Rom (1906 – 1995)

Bauunternehmung: Società Italiana Costruzioni Civili e Industriali (S.I.C.I.), Meran
Marmor: Cooperativa Marmisti, Verzegnis (UD)
Turmnadel in Metall: Tubital, Marghera Venezia
Beschläge: Serramenti Carlo Zago & Co., Marghera Venezia
Einrichtung: Fantoni Sa, Gemona
Glocken: Fonderia  de Poli, Revine (TREVISO)
Orgel: La Ceciliana, Padova

Quellen:
Edoardo Gellner, il mestiere di architetto, Franco Mancuso, Electa, Milano 1996

Architettura, Paesaggio, Fotografia, Studi sull’archivio die Edoardo Gellner, IUAV, 2015

La Chiesa di nostra Signora del Cadore di E. Gellner, C. Scaroa, S. Zorzie, C. Cestelli-Guidi, Greco Laura, Università della Calabria, Cosenza. Ingenio-web.it

Alte Bauernhäuser in den Dolomiten, Edoardo Gellner, Callwey

Dank:
Die Fotos in der Fotogalerie sind von Raphael Hähni, Zürich, Lukas Bögli, Biel, Daniele Di Giacinto, Solothurn und Patrick Thurston, Bern. Das Buch «Edoardo Gellner, il mestiere di architetto» hat mir Hans-Peter Bysäth ausgeliehen.

(1) siehe zum Beispiel: Triptychon von Bartolomeo Vivarini, 1473 in der Kirche Santa Maria Formosa in Venedig hier

Vorgestellt von: Patrick Thurston