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BSA Bern, Architecture elsewhere, , Patrick Thurston

Italienische Reise – Santo Stefano

Italienische Reise – Santo Stefano
© Patrick Thurston

Santo Stefano die Sessanio

Die Sache ist vertrackt. In der „Locanda sotto gli Archi“ servieren Gabriele und Nicola wundervolle Speisen aus der „Cucina tradizionale abruzzese“. Der Ort diente früher der Verarbeitung von Schafwolle, deren Handel einst von der Familie Medici aus Florenz kontrolliert wurde. Zwei gemauerte, relativ flache Bögen bilden das Tragwerk auf denen die Balkenlage ruht. Im Scheitel der Bögen stehen massive gemauerte Stützen die meine Neugier wecken. „Weshalb braucht es hier Stützen?“, frage ich Nicola, der uns so liebenswürdig mit allem bedient, was die Abruzzen zu bieten haben.

Teil 4: SANTO STEFANO DI SESSANIO. Hier lebte man seit Menschengedenken von den Schafen. „Transumanza“ wurde der Schafzug genannt, die Wanderung der Schafe in den Süden, wenn in den Abruzzen der Winter einkehrte. Santo Stefano war einer der Umschlagsplätze für Schafwolle. Heute gibt es in diesem 150 Seelendorf ein „Albergo Diffuso“ mit der „Locanda sotto gli Archi“, wo besagte Pfeiler die Bögen stützen. Auf meine Frage antwortete Nicola: „E probbabilmente un eccesso di zelo.“

Diese Redewendung bedeutet „Übereifer“, man könnte auch sagen, da wurde „über’s Ziel hinaus geschossen“ oder vielleicht schlicht nur „guet gmeint.“

Je mehr ich über den Ort und die räumliche Situation in der „Locanda sotto gli Archi“ nachdenke, um so mehr wird mir bewusst, wie Architektur gelesen werden kann. Hier ist ein archetypischer Raum, dessen Decke von zwei gemauerten Bögen getragen wird. Durch die beiden „unlogischen“ Stützen erfährt der Raum eine zusätzliche Gliederung und einen besonderen Reichtum. Die Stützen stellen sich sperrig in den Raum, sie deuten ein davor und ein dahinter an, welches die Bögen alleine nie schaffen könnten. Der Raum wird noch stärker dreigeteilt, erhält eine Intimität und Komplexität, die als Bereicherung empfunden werden kann. Die „guet gemeinte“ Raumkonstellation ist hier vielleicht spannender als eine statisch korrekte Konstruktion.

Ich kam ganz gut klar mit dem „Eccesso di zelo“. Manchmal wäre man heilfroh, man könnte sich hinter einer Stütze verstecken. Etwa dann, wenn man Gäste neben sich hat, die einem den Abend mit ihren im Brustton der Überzeugung vorgetragenen Schwarz-Weiss-Aussagen vermiesen. Vieles ist eben verschwommen, auch in der Architektur.

Im ganzen Dorf sind Ungereimtheiten zu finden. Auffallend sorgfältig gehauene Fenster- und Türgewände, welche zeigen, dass die Medici auch ihre Baukünstler nach Santo Stefano di Sessanio gebracht haben. Und da gibt es noch andere Zeichen, wie den eigenartigen Türbogen mit Flechtbändern, die aus einem Schlangen- und Schildkrötenkopf fliessen (Foto hier). Sind dies Spuren der Langobarden, welche zu Beginn des Frühmittelalters nach Italien wanderten? In den Kirchen in Bominaco und in Santa Maria in Valle Porclaneta finden wir weitere Zeichen dieser Kultur, die in den Völkerwanderungen aus dem Elbraum im heutigen Deutschland nach Italien kamen (Beitrag hier).

In Santo Stefano di Sessanio lernen wir von Andrea, der sein Leben eigentlich dem Tartuffo verschrieben hat, wie man Pizza bianca und Brot mit Lievito madre in einem 500 jährigen Holzofen bäckt. Andrea ist phänomenal! Wie er einen feinsten Mehlnebel aus seiner rechten Hand zaubert, damit das Brot nicht am Brett klebt! Santo Stefano ist aber auch unser Ausgangspunkt für Wanderungen in der kargen Landschaft der Abruzzen.

Wie kommen wir zu einer Architektur, welche undogmatisch räumlichen Reichtum, Komplexität und authentische Kraft sucht? Ich würde mich freuen über einen Austausch zu diesen Fragen.

Vorgestellt von: Patrick Thurston