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werk, bauen + wohnen 3 – 2023

werk, bauen + wohnen 3 – 2023

Zwischen Haus und Himmel

Wer erinnert sich an den Besuch auf einem unbe­heizten Dachboden? An das leichte Kribbeln im Bauch, das von der Kühle, der Enge, dem spärlichen Licht und dem Geruch von Staub herrührte? Vielleicht ist gerade dieser Dachboden inzwischen ausgebaut, das neue Isolationsmaterial hinter Gips­platten versteckt, bis auf ein paar sichtbare Holz­binder erscheint die Atmosphäre heute nüchtern. Und doch bleiben die meisten solcher Räume genug Dach, um sich darunter behütet zu fühlen.
Vielleicht ist es dieser zunehmende Mangel an elementaren Erfahrungen, der dazu geführt hat, dass heimelige Räume unter der Schräge als Ent­wurfstopos so populär sind wie selten zuvor. In dieser Ausgabe stellen wir jedoch keine Dachaus­bauten vor, denn diese waren bereits im Heft zu Aufstockungen (vgl. wbw 1/2 – 2017) Thema. Diesmal geht es um Dachräume zwischen Haus und Himmel. Sie fanden wir in Cambridge in einem College­-Saal von Feilden Fowles oder im Über­dach von Atelier Bermuda bei Genf. Ersterer steht in einer langen Tradition repräsentativer Säle und damit archaischer Urbilder von verschworenen Gemeinschaften im zeltartigen Bau. Letzterer ist der materiell­-pragmatische Wetterschutz für eine Künstlerkolonie und ihre Community, ein Schutz­raum, eine Scheune. Einem weiteren Weg folgen die Dächer von Giraudi Radczuweit in Ascona und von Giuseppe Pizzigoni rund um Bergamo: Sie sind alle aus der Geometrie entstanden und weniger aus der Tradition eines Stabwerks (auch wenn sich in Ascona grosse Fachwerkbinder hinter Textil verstecken).
Manche der im Heft gezeigten Dächer sind leis­tungsfähig in dem Sinn, dass sich mit optimierten Materialien ein grosser, (zumeist) gemeinschaftlicher Raum überspannen lässt, oder leistungsstark, indem Energie aus der Dachhaut gewonnen wird. Allesamt nutzen sie das formale Potenzial des Raumabschlusses zum Himmel hin und machen es erlebbar, immer mit der Expertise von Inge­nieurinnen und Ingenieuren. Atmosphäre wird also automatisch mitgeliefert – in diesem Sinne plädieren wir für mehr Tiefe in der Konstruktion. — Tibor Joanelly, Roland Züger