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BSA Bern, Architektur anderswo, , Reto Mosimann

Staatsbibliothek, Berlin

Staatsbibliothek, Berlin
Die Staatsbibliothek von Hans Scharoun als Filmkulisse in Wim Wenders „Himmel über Berlin“

«Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluss,
der Fluss sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.

Das wunderbare «Lied vom Kindsein» von Peter Handke umrahmt den Film «Himmel über Berlin» von Wim Wenders aus dem Jahr 1987. Ein Zeitdokument aus den Jahren vor dem Berliner Mauerfall. In diesem Film spielen nebst Solveig Dommartin als Marion, Bruno Ganz als Engel Damiel, Otto Sander als Engel Cassiel und Peter Falk als sich selbst auch die Staatsbibliothek von Hans Scharoun eine wesentliche Rolle. Als Teil des Kulturforums Berlin, nahe dem Potsdamer Platz in der Berliner Mitte, wurde «das Bücherschiff» in den Jahren 1967 bis 1978 für 226 Millionen Deutsche Mark errichtet.

«Als das Kind Kind war,
wusste es nicht, dass es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.»


Nach dem Tod Scharouns 1972 wurde das Bauwerk von seinem Schüler und langjährigen Mitarbeiter Edgar Wisniewski zu Ende geführt. Dieser war schon vorher massgeblich am Projekt beteiligt. Das von aussen goldene Gebäude ist das grösste Bauwerk Scharouns. Die Verwandtschaft der Bibliothek zur ebenfalls von Scharoun Anfangs der 60er-Jahre ganz in der Nähe erbauten Berliner Philharmonie ist sowohl in der offenen und fliessenden Raumkomposition wie auch in zahlreichen Details ersichtlich. Der Lesesaal ist in verschiedene Bereiche auf unterschiedlichen Ebenen aufgeteilt. Die „Leselandschaft“ wird geprägt von Balkonen, Treppen und terrassenartigen Emporen. Eine raumhohe Fensterfront sorgt für Licht und öffnet den Lesesaal nach draussen, zusätzlich verfügt die Decke über “Lichtkugeln” die im Lesesaal für Tageslicht sorgen.

Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
sass oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim Fotografieren.


Im Film von Wender sitzt der alte Mann Homer (Curt Bois) in diesem wunderbaren, offenen Bibliotheksraum und blättert im Buch «Menschen des 20. Jahrhunderts» von August Sander. Das Buch dokumentiert im Stile einer neuen Sachlichkeit die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen der Weimarer Republik und damit die Kulturgeschichte eines Landes, welches es so nicht mehr gibt. Homer hängt mit seinen Gedanken in einer Zeit, welche durch den Krieg ausradiert wurde (Sanders Werk ist aus heutiger Sicht nicht unumstritten, sein kategorisierender Blick wurde von den Nationalsozialisten übernommen).

Als das Kind Kind war,
war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, dass ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und dass einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?


Die «Engel» Damiel und Cassiel treten als Beobachter der Welt auf. So auch in Berlin wo sie Homer, dem «Erzähler der Menschheit» über die Schulter schauen und ihn begleiten. Sie können nicht in das Leben der Menschen eingreifen und sich ihnen nicht zu erkennen geben. Sie können ihnen jedoch neuen Lebensmut einflössen.

Als das Kind Kind war,
würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis,
und am gedünsteten Blumenkohl.
und isst jetzt das alles und nicht nur zur Not.


Der Raum der Staatsbibliothek bietet mit seinem fliessenden Raumkontinuum, mit seinen flachen Treppen und seiner einem perlenbesetzten Schmuckstück gleichenden Decke einen wunderbaren Rahmen für die Kontaktaufnahme mit den «Sterblichen». Das wunderbare Trittverhältnis lässt Damiel und Cassiel engelsgleich durch den fliessenden Raum schweben.

Als das Kind Kind war,
erwachte es einmal in einem fremden Bett
und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele Menschen schön
und jetzt nur noch im Glücksfall,
stellte es sich klar ein Paradies vor
und kann es jetzt höchstens ahnen,
konnte es sich Nichts nicht denken
und schaudert heute davor.

Der Wunsch, am Leben der Sterblichen teilzuhaben, wird bei Damiel so groß, dass er dafür bereit ist, auf seine Unsterblichkeit zu verzichten. Er verliebt sich in die schöne Trapezkünstlerin Marion, Peter Falk, als ehemaliger Engel, steht ihm bei seiner Umwandlung bei, indem er ihn in die kleinen Freuden des Lebens einweiht. Mit einer antiken Ritterrüstung als Startkapital wird er in die Welt hineingeworfen.

Als das Kind Kind war,
spielte es mit Begeisterung
und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch,
wenn diese Sache seine Arbeit ist.

Der Film ist aus der Perspektive der Engel erzählt, und die sehen die Welt in schwarz-weiss. Erst als Damiel ein Mensch wird, eröffnen sich ihm die Farben. Er lässt seinen alten Freund Cassiel allein zurück, der weiterhin dem alten Homer zur Seite steht.

Als das Kind Kind war,
genügten ihm als Nahrung Apfel, Brot,
und so ist es immer noch.


«Himmel über Berlin» erzeugt eine Stimmung der Traurigkeit und der Vergänglichkeit alles Irdischen. Das getrennte Berlin und seine Architektur bieten den authentischen Rahmen dafür. Falls der Mensch tatsächlich das einzige Wesen ist, das weiss, dass es in der Zeit existiert, handelt dieser Film von genau diesem Wissen. Ein wunderschöner Film, gefilmt in einem Berlin der Sehnsucht. „Eine poesievolle Liebeserklärung an das Leben, an die Sinnlichkeit und an die Begrenztheit des irdischen Daseins.“ Die Bibliothek von Scharoun bietet als einer von vielen Drehorten in diesem Film eine wunderbare Kulisse.

Als das Kind Kind war,
fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand
und jetzt immer noch,
machten ihm die frischen Walnüsse eine rauhe Zunge
und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem Berg
die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg,
und in jeder Stadt
die Sehnsucht nach der noch größeren Stadt,
und das ist immer noch so,
griff im Wipfel eines Baums nach den Kirschen in einem Hochgefühl
wie auch heute noch,
eine Scheu vor jedem Fremden
und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten Schnee,
und wartet so immer noch.


Dieser Artikel soll zu drei Dingen animieren: einerseits soll er zu einem Besuch der Staatsbibliothek einladen (am runden Desk in der Eingangshalle bekommt man eine Besucherbewilligung), andererseits empfehle ich den mehrfach preisgekrönten Film von Wim Wenders wieder einmal anzuschauen und nicht zuletzt im Buch von August Sanders zu blättern und sich inspirieren zu lassen.

Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum,
und sie zittert da heute noch.

Vorgestellt von Reto Mosimann