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BSA Bern, Architektur anderswo,

Palazzo del Lavoro, Torino

Palazzo del Lavoro, Torino
Der Palast verkommt zur Ruine

Auf der Suche nach Orten deren Klima sich günstig auf seine Krankheiten auswirkten, schwärmte Friedrich Nietzsche anlässlich seines Turiner Aufenthaltes im Jahr 1888: „Was für Sicherheit, was für Pflaster, gar nicht zu reden von den Omnibussen und Trams, deren Einrichtung hier bis ins Wunderbare gesteigert ist!“. Er sei auch „nirgendswo mit so viel Vergnügen spazieren gegangen als in diesen vornehmen unbeschreiblich würdigen Strassen. Unter den „herrlichen hochräumigen Portici, Säulen- und Hallengängen“ Turins, deren Ausdehnung 10’020 Meter betrage, könne man halbe Stunden in einem Athem gehen; und dass man mitten in der Stadt die Schnee-Alpen sieht! Dass die Strassen schnurgerade in sie hineinzulaufen scheinen! Die Luft trocken, sublim-klar. Ich glaubte nie, dass eine Stadt durch Licht so schön werden könnte.“
Der Palazzo del Lavoro, anlässlich der Internationalen Arbeitsausstellung von Pier Luigi Nervi in Zusammenarbeit mit den Architekten Gio Ponti und Gino Covre entworfen, stand damals noch nicht. Die Moderne scheint aber schon in der Luft von Turin gelegen zu haben. Der 1961 erbaute, 160 x 160 m grosse, viereckige Pavillon ist aus 16 quadratischen Modulen zusammengesetzt. Jedes Modul mit einer Seitenlänge von 40 Meter wird von einer 25 Meter hohen Kegelstützen getragen. Die natürliche Belichtung erfolgt durch die zwischen den Deckenelementen angeordneten Oblichtbänder.
Das zum Zeitpunkt seiner Einweihung als bemerkenswertes Beispiel für seine Grösse und seine technologische Innovation geltende Gebäude vegetiert heute vor sich hin und verkommt zur Ruine. Das Ausstellungswesen hat sich längst in neue, charakterlose Ausstellungshallen verschoben. Eingezäunt, vom Leben der Stadt abgetrennt und von dichtem Gebüsch verhüllt, hat der Palazzo aber trotz Brandspuren, zerborstenen Gläsern und rostenden Fassadenprofilen seinen grossen Atem, seine herrliche hochräumige Erhabenheit und seine durch das Licht Gestalt gewordene konstruktive Kraft bewahrt. Die Suche nach dem Loch im Zaun, der Kampf durch das Dickicht und der Einstieg über Glasscherben wird mit einem eindrücklichen Raumerlebnis belohnt.
Nietzsche kam in Turin zur folgenden Ansicht: „Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter […] Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Beiseitegehens ausdrücken […] Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.“

vorgestellt von Reto Mosimann