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BSA Bern, Unsere Anliegen, , Jana Scheibner

Appell zur Verlangsamung

Appell zur Verlangsamung

«Raum-Zeit wiederverwertbar»

Der nachfolgende Text «Raum-Zeit wiederverwertbar» wurde von Gilles Clément vor 12 Jahren als Beitrag für das Symposium «Die Stadt entschleunigen» geschrieben. Wir haben ihn vor ein paar Monaten zum ersten Mal gelesen und er hat uns wie aus der Seele gesprochen. Vielleicht durch die gegenwärtige Krise verstärkt, spüren wir mehr als je zuvor die Verletzbarkeit und Fragilität der Natur und des Lebens. Ein Gefühl der Dringlichkeit wird in uns wach. Unser schnelles, modernes, globales und wettbewerbsorientierte Leben muss entschleunigt werden. Clément propagiert Verlangsamung und materielle Schrumpfung. Die Corona-Krise hat uns notgedrungener Weise gezwungen zu verlangsamen. Bald werden wir aber zur Normalität zurückkehren und unsere Freiheit wiederfinden. Und jetzt? Machen wir so weiter, wie wir vor zwei Jahren aufgehört haben? Oder wagen wir es, unsere Zeit und unseren Raum zu entschleunigen, um mehr Miteinander, Solidarität und Rücksichtnahme zuzulassen. Clément ruft uns auf, Position zu beziehen!

Der radikale Gärtner

Der Franzose Gilles Clément (geb. 1943) ist Landschaftsgestalter, Botaniker, Entomologe, Biologe, Ingenieur der Ecole nationale d’horticulture, brillanter Schreiber und Professor an der Ecole nationale de paysage à Versailles. Er bezeichnet sich selbst am liebsten als Gärtner.

Beeinflusst durch die Periode der 68er Jahre, die auf die freie Entwicklung des Individuums setzte, und als profunder Ökologe entwickelte Clément vor mehr als 25 Jahren mehrere radikale Konzepte wie «Le Jardin planètaire» (der planetarische Garten) und «Le Jardin en Mouvement» (Garten in Bewegung).

Der bewegte Garten bezeichnet sowohl einen Gartentyp, in dem sich Pflanzenarten frei entfalten können, als auch allgemein eine Gartenphilosophie, die die Rolle des Gärtners neu definiert, indem sie der Beobachtung einen zentralen Platz einräumt und auf der Idee der Zusammenarbeit mit der Natur beruht.

Gilles Clément studierte diesen Ansatz zunächst experimentell ab 1977 in seinem eigenen Garten, La Vallée, in der Creuse (Foto1). Das Konzept des bewegten Gartens ist vom Brachland inspiriert: Ein nicht gepflegtes Grundstück wird schnell von zahlreichen Pflanzen besiedelt. Diese komplexe natürliche Dynamik, die auf zahlreichen Wechselwirkungen beruht, kann genutzt werden, um einen sich ständig verändernden Raum zu komponieren. Der Gärtner versucht, die vorhandenen Energien - Wachstum, Kämpfe, Verschiebungen, Austausch - zu beeinflussen, um sie zu seinem besten Nutzen zu wenden, ohne ihren Reichtum zu verändern". Cléments Motto lautet: "So viel wie möglich mit, so wenig wie möglich dagegen (gegen die Natur) machen" (Gilles Clément, Die Weisheit des Gärtners, S.70).

Mit dem 2004 veröffentlichten «Manifeste du tiers paysage» (Manifest der Dritten Landschaft), das in sehr viele Sprachen übersetzt wurde, ist Gilles Clément weit über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt geworden. Das Konzept wurde anlässlich einer Landschaftsanalyse des Ortes Vassivière im Limousin entwickelt: Die Dritte Landschaft - ein ‘unentschlossenes’ Fragment des planetarischen Gartens - bezeichnet die Summe der Räume, in denen der Mensch die Entwicklung der Landschaft allein der Natur überlässt. Sie umfasst städtische oder ländliche Gebiete, Übergangsräume und Brachland. Diese nicht genutzten Orte stellen die wichtigsten Gebiete für die Aufnahme der aus allen anderen Orten vertriebenen biologischen Vielfalt dar und werden gerade deshalb wertvoll gemacht. Gilles Cléments emblematisches Werk, ein Garten der Dritten Landschaft, der aus Pflanzen besteht, die keine Hilfe benötigen, wächst frei auf dem Dach des U-Boot-Stützpunkts in Saint-Nazaire (Photo2).

Cléments Reflexionen über den Garten, die aktueller und dringlicher denn je sind, werfen Fragen auf, die wir gern umgehen: Wie können wir akzeptieren, dass wir die Signatur des Raumes, den wir glauben, meisterhaft gezeichnet zu haben, aufgeben oder teilen müssen? Wie kann man die Rolle der Form verschieben, um sie in die Position einer zeitweiligen ästhetischen Lösung unter der Dynamik des Lebens zu bringen und nicht in eine unveränderliche Vorrichtung wie eine Architektur, die über allem steht (Gilles Clément, le jardin en mouvement, S.9)?

Link zum Text von Gilles Clément, deutsch hier
Link zum Text von Gilles Clément, französisch hier

vorgestellt von Jana Scheibner und Laurent Vuilleumier