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werk, bauen + wohnen 4-2021

werk, bauen + wohnen 4-2021

Das Potenzial des Bestandes wecken

Mit grossen, freundlich runden Kulleraugen blickt das ehemalige Silo im Basler Erlenmattquartier seinen Besuchern entgegen und macht klar, dass hier nicht mehr Kakao oder Kaffee lagern, sondern Menschen zusammenkommen. Im Inneren hat Harry Gugger Studio aus der Betonstruktur der Silozellen einzigartige Räume herausgeschält, die an Piranesis Carceri erinnern. Die Rauminszenierung sucht ihresgleichen – und ist erst möglich durch die sperrigen Voraussetzungen des Bestands, obwohl dieser sie so nie geboten hatte.
Genaues Hinhören auf das, was der Bestand zu sagen hat, ist die Voraussetzung für einen kongenialen Umbau, der aus dem Vorhandenen neuen Mehrwert gewinnt. In den Ruinen des italienischen Forte di Pozzacchio war es die bedeutungsvolle Stille des Orts, die durch die Erschliessung erst zum Klingen kam. Eine überdachte Tribüne, die aus einfachen Sitzstufen im Hof des Basler Vogesen­ Schulhauses herauswächst, macht aus dem Sportplatz einen öffentlichen Ort.
Genaues Hinhören ist umso wichtiger, wenn ein Architekturdenkmal ersten Ranges wie das Kurtheater Baden durch den Umbau um die Hälfte anwächst. Es grenzt an ein Wunder, dass die Proportionen des Baus trotzdem auf den ersten Blick unverändert er­ scheinen – weil das Gleichgewicht erhalten blieb, und weil sich die Neubauten dem Bestand sosehr anverwandeln, dass auch das geschulte Auge die Nahtstelle von Alt und Neu nicht zu erkennen vermag. Ebenso wurde die geschmeidige Weg­ und Lichtführung fast unmerklich weitergeführt, um das ver­ grösserte zweite Foyer organisch in die Promenade architecturale einzubinden.
Ob Architekturdenkmal oder Industriebau, Ge­denkstätte, Hostel oder Eishockey-Tempel: Alle Projekte in diesem Heft haben eines gemeinsam: Der Umbau schuf Mehrwert für die Öffentlichkeit, oder er machte den Ort erst öffentlich zugänglich. Trotzdem haben wir sie alle coronabedingt menschenleer angetroffen. Nichts haben wir in den letz­ten Monaten so sehr vermisst wie das freie, oft zufällige Zusammentreffen mit Freunden und mit Unbekannten, den Austausch in der Öffentlichkeit. Es wird höchste Zeit, dass Bauten wie die hier vorgestellten ihre Bestimmung wieder erfüllen und Menschen empfangen dürfen. — Daniel Kurz, Jenny Keller