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werk, bauen + wohnen 6 – 2022

werk, bauen + wohnen 6 – 2022

Potenziale entdecken

Bestandsbauten sind banal. Fast immer. Für ihre Besitzer ein Ärgernis: veraltet in Struktur und Komfort, mit zu kleinen oder zu grossen Räumen, ungenutzten Ausnützungsreserven. Und doch plädieren wir für mehr Sorgfalt im Umgang. Denn in manchen Fällen sind Bestandsbauten kulturelle Reservate, die in vergangene Lebensweisen Einsicht geben, und oft ist es gerade ihr störrisches Anderssein, das ihren Wert ausmacht.
Die Wohnhäuser und Siedlungen, die Büro- und Gewerbebauten, die jetzt auf Schritt und Tritt überall abgebrochen werden, sie sind zumeist keine Denkmäler, keine herausragenden Architekturen, nicht einmalig in ihrer Art. Trotzdem vermitteln sie sehr oft Identität und Zusammenhang. Die immer zahlreicheren Abbrüche zerreissen städtebauliche Gefüge und einheitliche Massstäbe. Nur selten entstehen danach raffinierte Neubauten, die das Umfeld stärken – öfter hält unter dem Titel der Verdichtung der Geist der Agglomeration Einzug: aus lesbarer städtischer Ordnung wird zusammenhangloses Nebeneinander; massige Volumen bedrängen die Nachbarschaft, Gärten und Bäume müssen Tiefgaragen und ihren Einfahrten weichen. Und nicht zuletzt verschwindet mit dem Bestand erschwinglicher Wohnraum, werden ganze Bevölkerungsgruppen aus der Stadt verdrängt – Wenig verdienende, Alleinerziehende, Handwerker, Migrantinnen.
Es ist aber weder die soziale noch die baukulturelle Kritik, welche die herrschende Abbruchwut heute entscheidend infrage stellt. Es ist die Einsicht der Dringlichkeit der Klimakrise. Wenn die Treibhausgasemissionen über die gesamte Lebensdauer (und nicht nur die Energieeffizienz im Betrieb) das entscheidende Kriterium sind, wird Abbruch als Strategie fragwürdig. Der Bestand ist ja nicht nur ein CO₂-Speicher, er enthält zugleich eine Einladung zur Suffizienz, zu einem Leben mit etwas weniger Fläche und Komfort.
Den Entwerfenden bietet die Arbeit am Bestand eigensinnige Denkanstösse. Transformation und Verdichtung im Bestand sind komplexer als der Neubau auf der Grünen Wiese. Macht sie das nicht interessant? So ist dieses Heft ein Plädoyer für einen aufmerksameren, neugierigen Blick auf den Bestand als kulturelle wie als materielle Ressource. — Daniel Kurz, Tibor Joanelly