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Italienische Reise – Ascoli Piceno

Italienische Reise – Ascoli Piceno
Ascoli turrita, studio storico e metodologie d’intervento per il restauro urbano Università degli Studi di Camerino, facoltà di architettura di Ascoli Piceno, 2007 - 2008 Studente: Paola Teodosi Relatore: Prof.ssa Simona Salvo

Ascoli Piceno

Um ins Herz der Abruzzen zu kommen, ich beschreibe ja unsere italienische Reise rückwärts, folgt man entweder der Adriaküste südwärts bis nach Pescara, das etwa in der Hälfte zwischen Rimini und Bari am Meer liegt und geht dann westwärts in die Berge oder man nimmt den Weg weiter nördlich durch die Berge und kommt bei Antrodoco, Amatrice und Aquasanta durch das Innere des Landes. Am Anfang dieser Fahrt durch Schluchten und Wälder liegt Ascoli Piceno. Dort machen wir Halt, weil Laura & Luca von der Calduca in Urbino uns diesen Ort empfohlen haben.

Der Touring Club Führer von 1986, den mir Franz Füeg überlassen hat, er würde heute übrigens seinen 99 Geburtstag feiern, erwähnt Ascoli Piceno nur mit knappen Worten.

Teil 7: ASCOLI PICENO: Wer hat schon von dieser Stadt gehört? Vielleicht konnten ja diese Orte, ohne grosse Namen, genau das bewahren, wofür wir Italien so lieben. Mir jedenfalls machte es Spass, den jungen Mann an der Tankstelle eingangs der Stadt zu ermuntern, nicht aufzugeben wegen all den bürokratischen Widerwärtigkeiten des Alltags, im Gegenteil, die Stimme zu erheben, dagegen mit Argumenten anzutreten. In Florenz hätte ich das wohl kaum gemacht. Aber hier ist etwas anders, unmittelbarer.

Wir treten beim Dom in das Stadtgefüge ein. Rein zufällig. Sofort finden wir uns zurecht, lassen uns treiben, ohne Plan und ohne Vorkenntnisse finden wir zur Piazza del Popolo. Die städtische Ordnung macht es uns einfach. Die öffentlichen Räume haben eine angenehme Massstäblichkeit und obgleich das Ganze kleinteilig und komplex wirkt, wird man von einer unsichtbaren Kraft oder einer einfachen Grundordnung geleitet. Es gibt Überraschungen im Stadtgefüge wie unerwartete Durchblicke, kleinste Krümmungen der Strassenfluchten, Verengungen der Räume und an den Rändern nimmt die Stadt die Form der Flussläufe auf. Zur römischen Brücke im Norden wollen wir um die Stadt innerlich zu durchmessen. In der Via del Trivio gerät linkerhand ein Neubau ins Blickfeld. Ein Bauwerk aus Beton brut mit skulptural in grosse Tiefen zurückversetzen Holzfenstern, die Leibungen und Sturzpartien der ersten beiden Stockwerke sind stark angeschrägt und an der einen Hausecke springt die Fensterfront der Läden in die Höhe. Dieses Bauwerk fasziniert mich. Es steht präzise im Stadtraum. Auf der Rückseite gibt es einen hofartigen Einzug, der aus der Via del Trivio über Durchgänge erreichbar ist. Diese Sprache gibt’s sonst nicht in Ascoli. Da ist ein Zeitsprung sichtbar. Die Sorgfalt, mit der das Haus im Stadtbild platziert ist und die gekonnte, plastische Gestaltung zeigen, dass ganz Unterschiedliches zu einem Ganzen zusammen wachsen kann.

Meine Nachforschungen bei Dario Nanni, dem Präsidenten dell'Ordine degli Architetti di Ascoli Piceno sind im Gange. Der Architekt dieses Werkes ist Enrico Teodori. Von ihm gibt es in Ascoli ein „Sacrario ai Caduti della resistenza picena“, 1965 vom damaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro eingeweiht. Enrico Teodori ist in Ascoli aufgewachsen. Er lebte in Rom, wo er auch Dozent an der Architekturhochschule war.

Einige Schritte weiter, auf einem aufgefächerten Platz nahe der römischen Brücke steht die „Chiesa dei Santi Vincenzo e Anastasio“, deren Fassade ein Abbild der Raumordnung dieser Stadt sein könnte.

Auf dem Rückweg vom Fluss Tronto zum Dom überqueren wir nochmals die Piazza del Popolo. An der einen Ecke des Platzes ist uns schon vorher das „Caffè Meletti“ aufgefallen. Oh Wunder, da ist ja der „Ucellino nella Gabbia“ vom dem „Peppo“ auf dem Campo Imperatore (siehe hier) erzählte. Ob da 1907, als das Café eröffnet wurde, ein richtiger Vogel drin war? Ein Distelfink oder ein Girlitz? Ob die Vögel sich auch so verloren vorkamen wie Peppo in der Textilfabrik in Bellinzona? Die Tierschutzvorschriften scheinen zum Glück nur noch „Kunstvögel“ zuzulassen. Das Caffè Meletti ist aber immer noch eine Wucht, es hat alles was man braucht, um einen Espresso in vollen Zügen geniessen zu können, damit der lange Weg von Urbino hierher flugs verdaut ist.

Raumordnung, ist das ein Begriff, der die Kraft, die Vielfalt und das Potential des öffentlichen Raumes einer Stadt umschreiben kann? Ich würde mich freuen über einen Austausch zu dieser Fragen.

Vorgestellt von: Patrick Thurston