Eine Feststellung haben wir während der Arbeit an diesem Heft gemacht: Visuell dichte Räume – sei es des Barocks, des Fin de siècle oder auch von Frank Lloyd Wright – schaffen Welten, die jeweils im Spannungsverhältnis zu einer Zeit in starkem Wandel oder sogar der Krise stehen. Eine tiefe Architektur kann somit ein Medium sein, das die aktuelle Unübersichtlichkeit metaphorisiert.
Dabei gilt es, Tiefe nicht mit Komplexität zu verwechseln – hier Phänomen, dort Ursache. Klar wird der Unterschied bei einem Blick auf virtuelle Spielwelten am Computer. Auf der Ebene der Programmierung sind sie hochkomplex – auf jener der Wahrnehmung aber erlebt eine Spielerin immer nur Raum um Raum und Ereignis um Ereignis. Das Mass an Tiefe einer Spielanordnung bemisst sich dabei an der potenziellen Handlungs oder Erlebensdichte, also an den hintereinandergelagerten Dingen und Spielwelten und am Vergnügen, diese zu erschliessen. Spielen hat etwas mit Eintauchen und Versinken zu tun, und das sind Eigenschaften, die auch auf das Entwerfen und das Nutzen von Architektur zutreffen können. Salopp liesse sich sagen: Ein Raum, der auf mehr als einen Blick erkannt werden muss, schafft Anreiz zu körperlichem Spiel, zur Bewegung, Entdeckung und Annäherung an das Bauwerk. Und nicht zuletzt zu körperlicher Identifikation mit Architektur.
In diesem Heft stehen verschiedene Aspekte von «Tiefe» zur Diskussion, physische und solche in übertragenem Sinn. Da wären der architektonische Raum als Bühne, die Tiefe des Commitments und ein Ausflug in Geschichte und Geologie. Steffen Hägele deutet in seinem Essay an, dass «Tiefe» neben aller Phänomenologie auch etwas mit Tiefgründigkeit, mit Recherche und Informiertheit zu tun hat – und mit dem Eingeständnis, dass nicht jede Art von Tiefe mit Architektur ergründet werden kann. Zwei gezeigte Umbau-Beispiele sind massgefertigte Unikate im gehobenen Segment und lassen sich nicht einfach auf Verhältnisse im Mietwohnungsbau übertragen. Oder doch? Wenn endliche Ressourcen beim Bauen ihr Recht ein fordern und Architektur wieder mehr aus Dingen besteht, die ihre eigene Geschichte inkorporieren – dann könnte auch die gemeine Wohnarchitektur ganz allgemein tiefer und vor allem reicher sein. — Tibor Joanelly, Jenny Keller