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werk, bauen + wohnen 3 – 2022

werk, bauen + wohnen 3 – 2022

Eintauchen

Eine Feststellung haben wir während der Arbeit an diesem Heft gemacht: Visuell dichte Räume – sei es des Barocks, des Fin de siècle oder auch von Frank Lloyd Wright – schaffen Welten, die jeweils im Spannungsverhältnis zu einer Zeit in starkem Wan­del oder sogar der Krise stehen. Eine tiefe Archi­tektur kann somit ein Medium sein, das die aktuelle Unübersichtlichkeit metaphorisiert.
Dabei gilt es, Tiefe nicht mit Komplexität zu ver­wechseln – hier Phänomen, dort Ursache. Klar wird der Unterschied bei einem Blick auf virtuelle Spielwelten am Computer. Auf der Ebene der Pro­grammierung sind sie hochkomplex – auf jener der Wahrnehmung aber erlebt eine Spielerin immer nur Raum um Raum und Ereignis um Ereignis. Das Mass an Tiefe einer Spielanordnung bemisst sich dabei an der potenziellen Handlungs­ oder Erlebens­dichte, also an den hintereinandergelagerten Dingen und Spielwelten und am Vergnügen, diese zu erschliessen. Spielen hat etwas mit Eintauchen und Versinken zu tun, und das sind Eigenschaften, die auch auf das Entwerfen und das Nutzen von Ar­chitektur zutreffen können. Salopp liesse sich sagen: Ein Raum, der auf mehr als einen Blick erkannt werden muss, schafft Anreiz zu körperlichem Spiel, zur Bewegung, Entdeckung und Annäherung an das Bauwerk. Und nicht zuletzt zu körperlicher Iden­tifikation mit Architektur.
In diesem Heft stehen verschiedene Aspekte von «Tiefe» zur Diskussion, physische und solche in übertragenem Sinn. Da wären der architektonische Raum als Bühne, die Tiefe des Commitments und ein Ausflug in Geschichte und Geologie. Steffen Hägele deutet in seinem Essay an, dass «Tiefe» neben aller Phänomenologie auch etwas mit Tief­gründigkeit, mit Recherche und Informiertheit zu tun hat – und mit dem Eingeständnis, dass nicht jede Art von Tiefe mit Architektur ergründet werden kann. Zwei gezeigte Umbau­-Beispiele sind massgefertigte Unikate im gehobenen Segment und lassen sich nicht einfach auf Verhältnisse im Mietwohnungsbau übertragen. Oder doch? Wenn endliche Ressourcen beim Bauen ihr Recht ein­ fordern und Architektur wieder mehr aus Dingen besteht, die ihre eigene Geschichte inkorporieren – dann könnte auch die gemeine Wohnarchitek­tur ganz allgemein tiefer und vor allem reicher sein. — Tibor Joanelly, Jenny Keller