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werk, bauen + wohnen 12 – 2020

werk, bauen + wohnen 12 – 2020
Bild: Giaime Meloni

Sozialwohnbau – grün und individuell

Sozialer Wohnungsbau muss nicht schematisch aussehen. Das zeigt eine Strassenkreuzung im Zentrum des Pariser Vororts Ivry-sur-Seine. Die 1929 in Algerien geborene Architektin Renée Gailhoustet hat es während zwei Jahrzehnten umgebaut. Bis heute lebt sie, in hohem Alter, in der von ihr entworfenen Siedlung Le Liégat. Die seit Jahrzehnten kommunistisch regierte Vorstadt und ihr Wohnungsbauunternehmen OPHLM boten den Nährboden für das Experiment eines Sozialwohnungsbaus im Dienst des Individuums. Gegen serielle Gleichförmigkeit traten bereits die ersten Bauten Gailhoustets an: Die Hochhausscheiben Raspail und Lénine beherbergen Duplexwohnungen und Gemeinschaftsflächen auf  dem Dach. Die Bauten danach nahmen ganz neue architektonische und städtebauliche Gestalt an: Sternförmige Grundrisse, die durch Schnitt- und Drehbewegungen zu einem bewohnten und begehbaren Hügel geschichtet werden – Referenzen wie der Mont St. Michel oder die Stadt Matera lassen sich herbeiziehen. Sie betonen die Individualität der Bewohnerinnen und Familien, schaffen aneignungsoffene und  begrünte Aussenräume trotz hoher Dichte.
Auch die Arbeit des Architekten Jean Renaudie ist mit Ivry und Renée Gailhoustet verknüpft, denn ihm erteilte sie mehrere Aufträge – auch privat waren sie ein Paar und hatten zwei gemeinsame Töchter, aber immer getrennte Büros. Von Renaudies Bauten an der Avenue Casanova in Ivry, im Volksmund Les Etoiles, mit den gezackten Grundrissen, ist auch Gailhoustets spätere Architektur beeinflusst. Sie entwickelt freie Grundrisse, die von innen nach aussen wachsen als Abbild eines sozialen Gesellschaftsideals, wo Selbstverwaltung gelebt wird und der Mensch im Zentrum steht. Das Experiment von Gailhoustet und Renaudie und ihre Emphase für weite Schwellenräume hat nun nach fünfzig Jahren eine Renovation verdient. Für manche der heute teils leer stehenden Ladenlokale müssen neue Ideen gefunden werden. Warum nicht im Geist der damaligen Umbaumassnahmen unter Einbezug der Bewohner? Das Zentrum von Ivry-sur-Seine eröffnet auf jeden Fall das ideale Feld
für einen Situationistischen Spaziergang abseits der Touristenpfade der französischen Metropole. — Jenny Keller, Roland Züger