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werk, bauen + wohnen 4 – 2020

werk, bauen + wohnen 4 – 2020

Architektonischer Überschuss

In diesem Heft ist uns aufgefallen, dass die Architekten einiger der gezeigten Projekte auch bei der Namengebung zur erzählenden Rhetorik neigen. So ist etwa von einer «Goethe-Treppe» die Rede oder vom «(da)Vinci»-Schulhaus. Es scheint fast, als bedürfe der entwerferische Überschuss in Form spektakulärer Treppen zu seiner Legitimation einer höheren Patenschaft. Meist sind Treppen ja tatsächlich nur dazu da, Geschosse zu überwinden – ein notwendiges Übel. Doch zum Glück gibt es auch das andere: inszenierte Treppenanlagen, etwa die (irrtümlich) Leonardo zugeschriebene Doppelhelix auf Schloss Chambord im Loiretal, Michelangelos manieristische Verschwendung in der Biblioteca Laurenziana in Florenz, die Treppe der fürstlichen Residenz in Würzburg, der als Bühne der Bourgeoisie ausgelegte Aufgang zur Pariser Opéra Garnier – oder Le Corbusiers Förderband-ähnliche Rampen im Moskauer Centrosojus.
Die Inszenierung des Hochsteigens bietet Architekten seit der Renaissance ein Betätigungsfeld mit garantiertem Raumgewinn: Treppen fordern Platz und schaffen Raum, sie verbinden Räume und öffnen Durchblicke. Dies gilt erstaunlicherweise auch unter dem Regime von SIA 358 und 500, trotz vorgeschriebener Geländerhöhen und Hindernisfreiheit. Oder ist es vielleicht sogar umgekehrt? – dass Treppen Architektinnen gerade wegen Normen und Kostendruck zu Höchstleistungen herausfordern?
Der Grund könnte aber auch ein anderer sein: Nirgendwo erfahren wir Architektur so unmittelbar mit dem Körper wie beim Treppensteigen. Das ist im Zeitalter der nahezu berührungslosen Wisch-Gesten ein nicht zu unterschätzendes Asset. Denn die Mühe, die das Emporsteigen mit sich bringt, schafft im Gegensatz zur Enge der Liftkabine jenes Gefühl der körperlichen – aber auch visuellen, taktilen und mentalen, ja sogar der sozialen – Interaktion, das für eine bewusste Wahrnehmung des Raums wichtig ist. Auf der Treppe entsteht jene Form einer Wechselbeziehung, welcher der Soziologe Hartmut Rosa mit Resonanz ein auch für Architekturschaffende empfehlenswertes Buch gewidmet hat.1 — Tibor Joanelly, Jenny Keller