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werk, bauen + wohnen 11-2019

werk, bauen + wohnen 11-2019

Kirchenräume öffnen

Unter gotischen Kreuzgewölben Hummer speisen? Im Angesicht des Gekreuzigten den Sonnengruss üben? Oder Windeln wechseln und Verstecken spielen? Ist es vertretbar, dass man einen geweihten Raum in die Niederungen des Alltags entlässt und zum Event- oder Erlebnisraum umfunktioniert? Wo liegen die Grenzen eines immobilienwirtschaftlichen Umgangs mit kirchlichen Räumen? Und wo die Chancen der Öffnung so oft leer stehender Bauten als Allmend für breit verstandene gesellschaftliche Bedürfnisse? Welche architektonische Herausforderung ist damit verbunden? Für die Beantwortung dieser Frage mit moralischer und archi-tektonischer Brisanz gilt wie für die Kunst des Umbauens: Eine Lösung findet sich nur caso per caso (vgl. wbw 1/2 – 2019, «Nahtstellen»).
Radikale Lösungen sind schnell zur Hand, sie sind wohlfeil und die Fallhöhe gross. In Holland oder England finden sich unzählige Beispiele von Kirchenräumen, die zu Sporthallen, Wohnungen, Diskotheken, und ja: sogar zu Bordellen umgebaut wurden. Oft wird dabei die architektonische Würde des Raums ebenso verletzt wie die spirituelle.
In den modernen westlichen Gesellschaften haben der Glaube und die Kirche längst aufgehört, den Alltag zu durchdringen. Doch vielleicht könnte im Gegenzug der gesellschaftliche Alltag mit seinen Bedürfnissen vermehrt in die Kirche dringen und ihr neuen Sinn verleihen? Natürlich ist dieses Editorial kein Plädoyer für mehr Religion im Leben, schon gar nicht für die dunkleren Seiten der Kirchenhierarchien. Doch bewegt man sich durch andere Kulturen, andere Städte etwa in Asien, so fällt schon auf, wie eng Spiritualität und Alltag dort auch heute noch verschränkt sind. Überall gibt es einen Tempel, einen Schrein, vor dem es sich innehalten lässt… Und ist nicht gerade auch die Architektur ein Märchenreich, an das man glaubt oder eben nicht?
Die hier im Heft vorgestellten Beispiele zeigen alle, wie die Würde des religiösen Raums in ein neues Ganzes überführt werden kann. Bei den geglückten Umbauten und Umwidmungen wurde dies nicht zuletzt mit den Mitteln der Architektur erreicht, selbst wenn Architektur nicht die erste Geige spielte.
Architektur ist eine Denkart. Sie ist ein Medium, das zwischen Material und Idee, zwischen Raum und Mensch, zwischen Hier und Dort zu vermitteln weiss. Ohne ihre inszenierende und nobilitierende Maschinerie bliebe mancher Raum nach der Profanierung vor allem eines: profan. — Tibor Joanelly, Daniel Kurz