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werk, bauen + wohnen 7/8 – 2018

werk, bauen + wohnen 7/8 – 2018

Klimawandel heisst Kulturwandel

Seit der frühere US-Vizepräsident Al Gore 2006 in den Kinos Eine unbequeme Wahrheit verkündete, ist diese spürbar unbequemer geworden. 16 der 17 wärmsten Jahre seit 1880 wurden im 21. Jahrhundert gemessen, und die letzten vier Jahre waren jene mit den höchsten globalen Durchschnittstemperaturen. Die Erderwärmung im Anthropozän schreitet so schnell voran, dass sie der renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber kürzlich mit derjenigen nach dem Asteroiden-Einschlag vor 66 Millionen Jahren verglich, der drei Viertel aller Arten auslöschte. Seine Quintessenz: «Wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen, brauchen wir über Einkommensverteilung, Rassismus und guten Geschmack nicht mehr nachzudenken.»
Der Gebäudesektor trägt einen grossen Teil zum Ausstoss jener Treibhausgase bei, welche die Erwärmung verursachen. Darauf hat die Branche reagiert, indem sie den Gebäudepark mittels Neubauten und Sanierungen auf ein Minimum an CO₂-Ausstoss trimmt. Aber produziert sie im Zuge dieser Erneuerungsarbeiten nicht so viel CO₂, dass der Rest des im Rahmen der Klimaziele verfügbaren Emissions-Budgets innert weniger Jahre aufgebraucht wird? Wie unser Autor Sasha Cisar in diesem Heft ausführt, wäre ein Kulturwandel vom Ersatz zum Erhalt der Bausubstanz und vom Einsatz CO₂ verursachenden zu CO₂ bindenden Materialien dringend angezeigt. Um Schellnhubers Warnung in die Baubranche zu übertragen: Wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen, brauchen wir über Baukultur, Grundrisse und Proportionen nicht mehr nachzudenken.
Unter hiesigen Architekturschaffenden gibt es eine hohe Sensibilität für das Thema, aber wenig Antworten mit den Mitteln der Architektur. Vielleicht, weil der Klimawandel immer noch als Problem «der Anderen» wahrgenommen wird? Doch wer heute ein Gebäude plant, tut dies für ein ganz anderes Klima als das heutige. H Arquitectes aus Katalonien zeigen, wie mit den Mitteln der Architektur selbst klimagerechte Bauten entstehen können – ohne aufwändige Technik und dichte Hülle. Gesucht sind in diesem Sinn innovative wie traditionelle Antworten auf die Frage, wie wir unseren Planeten und unsere Häuser bewohnbar halten. Wir haben Architekturschaffende danach befragt und einen Augenschein in Städten genommen, die den Umbau für eine wärmere Zeit in Angriff nehmen. — Benjamin Muschg, Daniel Kurz